Wie viele Stücke spielen unsere Schüler*innen wohl in einem Schuljahr? Je schwerer die Kompositionen werden, desto länger sind unsere Schüler*innen damit beschäftigt und die Anzahl der gelernten Stücke nimmt stetig ab.
Wie motivierend ist das für Schüler*innen?
Und wie sinnvoll erleben wir das als Lehrer*innen?
Um die Anzahl der gelernten Stücke im Auge zu haben, schreibe ich diese seit einigen Jahren mit meinen Schüler*innen auf. Ein toller Moment, um zu sehen, wie eigentlich der Stand der Dinge ist und um über neue Literatur und Schülerwünsche zu sprechen. Mehr dazu findest du im Artikel über die gelernten Stücke und mehr Motivation für fortgeschrittene Schüler.
Oft wird aber dabei sichtbar, wie wenig Stücke unsere Schüler*innen eigentlich spielen. Das ist bei mir nicht anders und seit etwa zwei Jahren versuche ich etwas dagegen zu steuern.
Zwei fortgeschrittene Schülerinnen haben deshalb Hefte, die quasi für sie „zu leichte“ Stücke enthalten. Sie wissen, warum sie diese spielen und mögen die Kompositionen.
Die erste tut sich mit dem Notenlesen schwer und hat verinnerlicht, dass jedes Stück ewig dauert. Ihr habe ich ein Heft mit tollen Stücken vorgeschlagen, die alle nur eine Seite lang sind. Die Charming Moments Vol.2 von Sandra Labsch (unbezahlte Werbung). Jedes Mal ist sie erstaunt, wie schnell sie diese gelernt und abgeschlossen hat.
Die zweite Schülerin übt regelmäßig und gut, doch nicht so strategisch, wie ich es ihr zutraue. Außerdem spielt sie gern Poparrangements mit vielen Seiten. Ihr habe ich ebenfalls ein Heft von Sandra Labsch vorgeschlagen: Die zauberhaften Monate (unbezahlte Werbung). Alle Stücke haben nur zwei Seiten. Nun lernt sie ganz allein immer das Stück des aktuellen Monats und spielt es mir vor, wenn sie quasi damit fertig ist. Teilweise höre ich es mir auch einmal zwischendurch an und gebe ein paar Tipps. Die Idee ist, dass sie innerhalb eines Monats selbstständig Stücke zu lernen. Gleichzeitig ist es für sie ein Testlauf, wie gut sie schon allein übt.
Bei beiden Schülerinnen habe ich das Gefühl, dass sie diese kurzen Stücke bereichern und mehr Übung bieten.

Den Impuls zu diesen Maßnahmen hatte ich durch einen Artikel, den ich vor vielen Jahren gelesen habe und der mir immer wieder mal durch den Kopf schwirrte.
Der Artikel handelt von der „40 Piece Challenge„, eine Idee der australischen Kollegin Elissa Milne geschrieben. Sie komponiert auch, vielleicht kennst du ihre „Little Peppers“-Serie?
Ihre Idee scheint verrückt: Sie setzte sich das Ziel, dass ihre Schüler*innen 40 Stücke pro Schuljahr lernen sollten, damit diese mehr Erfahrung und Selbstständigkeit aufbauen konnten.
Das klingt kaum umsetzbar, oder?
Und doch ist es auch eine faszinierende Vorstellung, dass unsere Schüler*innen bessere Musiker*innen werden könnten, wenn sie viel mehr Stücke lernen.
Lies weiter und erfahre, wie Elissa Milne auf diese Idee kam, welche Wirkung diese hat, wie sie umgesetzt wird und abschließend, was wir davon mitnehmen können, selbst wenn wir keine 40 Piece Challenge machen.
Wie es zur 40 Piece Challenge kam
Die australische Klavierpädagogin, Komponistin, Herausgeberin und Speakerin Elissa Milne machte 2001 eine spannende Entdeckung. Bei Recherchen las sie zufällig in einem Vorwort einer europäischen Etüden-Sammlung darüber, dass die Schüler*innen viel zu wenig Stücke lernen würden.
Der Autor schrieb (paraphrasiert und frei übersetzt):
Wie sollen Schüler pianistische Fähigkeiten aufbauen, wenn sie nur sechs Stücke pro Jahr lernen? Sie sollten viel mehr, zum Beispiel 40 Stücke pro Jahr lernen, damit sie überhaupt die Möglichkeit haben das Instrument wirklich zu lernen.
Das wirklich Spannende daran war, dass die Etüdensammlung Mitte des 18. Jahrhunderts verlegt worden war!
Elissa Milne sah, dass es dieses Problem schon damals – ohne den heutige Ablenkungen – gab.
Ich persönlich denke, dass jede Generation ihre Herausforderungen hatte. Damals gab es zwar keine Handys und Videospiele, doch auch kaum ausreichend pädagogische Unterrichtsliteratur.
So oder so – Milne sah, dass sich bisher noch nicht geändert hatte, da auch ihre Schüler*innen nur etwa sechs bis zehn Stücke pro Jahr spielten. Sie entschied, dass ihre Schüler*innen die erwähnten 40 Stücke lernen sollten.
Dies war der Startschuss für die 40 Piece Challenge!
Viele Jahre testete sie, wie sie die Anzahl der Stücke erhöhen konnte und erzählte immer wieder Kolleg*innen davon. Über die Jahre haben immer mehr Lehrer*innen die Herausforderung angenommen und eigene Aktionen gestartet. Auf der Website von Wendy Stevens habe ich ein Gespräch mit Elissa Milne entdeckt: „Interview with Elissa Milne on the 40 Piece Challenge„. Tim Topham und Nicola Cantan haben auf ihren eigenen Blogs davon berichtet. Und Samantha Coates hat eine „40-thing Challenge“ daraus gemacht.
Elissa Milne hat sogar mit dem Hal Leonard Verlag eine passende Serie herausgebracht, die auch in Deutschland erhältlich ist. Sie heißt „Getting to…“, doch ist ziemlich teuer. (unbezahlte Werbung)
Wendy Stevens hat Charts zum Notieren und eine große Auswahl an „Short Sheets“ (unbezahlte Werbung) komponiert. Kurze Stücke, die schnell zu lernen sind und sich deshalb wunderbar für die Challenge eignen. Diese sind per Download in Form einer Studiolizenz erhältlich.
Natürlich kannst du die Hefte nehmen, die du sowieso im Unterricht verwendest!
Falls du den Originalartikel über die ganze Entwicklung lesen möchtest: „Where did the 40 Piece Challenge begin?“
Diese Idee hat also einiges in Bewegung gebracht.
Welche Auswirkung hat das Lernen einer hohen Anzahl an Klavierstücken?
Spannend ist natürlich zu erfahren, was die 40 Piece Challenge für Wirkungen hat. Was Elissa Milne und weitere Kolleg*innen entdeckten, sind folgende:
Die teilnehmenden Schüler*innen entwickelten
- gute Blattlesefähigkeiten,
- größeres Musikverständnis durch vielseitige Erfahrungen,
- wachsendes Selbstvertrauen und eine
- große Selbstständigkeit.
Faszinierend, oder?
Bestimmt fragst du dich, wie es überhaupt möglich ist, dass Schüler*innen 40 Stücke pro Schuljahr lernen können…
Wie funktioniert die 40 Piece Challenge?
In Australien gibt es wohl in etwa 40 Unterrichtsstunden pro Schuljahr, dies bedeutet, dass die Schüler*innen jede Woche mindestens ein bis zwei Stücke neu bekommen beziehungsweise abschließen.
Die wichtigste Voraussetzung ist, dass die Schüler*innen Stücke in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden spielen. Elissa Milne und Wendy Stevens differenzieren zwischen drei Gruppen:
- Stücke, die genau richtig sind
- Stücke, die herausfordernd sind
- Stücke, die zwei bis drei Stufen leichter als die eigentliche ist
Die Stücke der drei Wochen haben natürlich unterschiedlich lange Lernzeiten. Von den herausfordernden Stücken wird immer nur eins über Monate hinweg gespielt. Die leichten Stücke sollen innerhalb ein oder zwei Wochen gelernt werden.
Alle Stücke sollten mindestens 16 Takte lang sein.
Die genau passenden Stücke sind die, die individuell ausgesucht werden. Die leichten Stücke werden so schnell gelernt, dass man es auch mal aushalten kann, falls man es nicht mag.
Ein paar Tipps, die ich aus einigen Artikeln wie „Suggestions for getting started“ von Elissa Milne oder „Take the 30 Piece Challenge“ von Wendy Stevens zusammengetragen habe:
- Jeder teilnehmende Schüler oder Schülerin erhält eine Liste, auf der alle Stücke vermerkt werden.
- Ein neues Stück wird zu Lernbeginn auf die Liste geschrieben. Das wirkt motivierend und ist ein positiver Startschuss. Der Weg ist das Ziel…
- Ein Stück ist fertig gelernt, wenn es richtig und flüssig gespielt wird und den Charakter zeigt.
- Vor Beginn der Challenge sollte den Schülern erklärt werden, dass sie einfache Stücke zum Sammeln von Erfahrungen aufbekommen und nicht „degradiert“ werden.
- Einfache Stücke können von den Schülern auch allein begonnen werden.
- Die Stücke sollten begeistern, also musikalisch ansprechend sein.
- Die Schüler sagen zu Beginn der Stunde welche Stücke sie vorspielen und besprechen möchten. Das heißt, dass nicht in jeder Stunde alle Stücke gespielt werden, die geübt werden.
- Damit die Schüler motiviert sind, sollte es Herausforderungen geben. Zum Beispiel soll das neue Stück in einem bestimmten Zeitraum oder auswendig gelernt werden. Oder es sollen von Anfang an Details wie die Dynamik oder Artikulation beachtet werden.
- Falls ein Stück überhaupt nicht gemocht wird, gilt es zu entscheiden ob der oder die Schülerin es noch für kurze Zeit aushält und abschließt oder ob es durch ein anderes Stück ersetzt wird. Dann wird das ungeliebte Stück von der Liste gestrichen.
Was können wir von der 40 Piece Challenge mitnehmen?
Ich hoffe du liest noch und hast nicht total gestresst weggeklickt…
Wie schon zu Beginn geschrieben fasziniert mich die Idee, dass meine Schüler*innen viel mehr Stücke spielen und somit auch mehr Erfahrungen sammeln. Ich bezweifle, ob es unbedingt 30 oder 40 sein müssen. Eine bestimmte Zahl kann aber ein wichtiger Ansporn für Schüler*innen sein.
Warum hat sich die 40 Piece Challenge nicht in Deutschland durchgesetzt?
Ganz sicher sind wir nicht alle Lehrer*innen, die begeistert eine Challenge durchführen. Vor allem eine, die das ganze Schuljahr läuft…
Wichtig für so eine Aktion ist bestimmt auch eine gute Planung, Vorbereitung und Organisation. Das braucht Zeit, die wir nicht immer haben. Das mag an einer hohen Schüleranzahl liegen oder auch dem Umstand, dass wir uns immer im Spannungsfeld zwischen Dienstleistung und künstlerischem Anspruch befinden. Vielleicht fehlt es auch an Struktur, die man sich zuerst selbst über viele Jahre erarbeiten muss.
Vor allem muss aber auch ausreichend Material zur Hand sein. Und da gibt es das Hindernis, dass unsere Verlage keinerlei vergleichbaren Schwierigkeitsstufen angeben. Im englischsprachigen Raum hingegen gibt es sogar mehrere Systeme. Das ist ein Anhaltspunkt, die eine Auswahl an Stücken schon im Vorfeld vereinfacht.
Was können wir für uns mitnehmen?
Ich denke, dass wir damit beginnen könnten, einfach mehr Stücke in unterschiedlichen Stilen und Stufen zu unterrichten. Die Schüler*innen sammeln durch viele Stücke eben viel Erfahrung.
Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich bestätigen, dass es eine gewisse Anzahl an gespielten Stücken braucht, bis das man „sicher“ in einzelnen Stilen, der Interpretation oder einfach nur beim Erarbeiten von Stücken ist.
Ich bin erst mit 11 oder 12 Jahren am Klavier gestartet und jedes neue Stück, was ich bekam, war gefühlt eine Stufe schwieriger als das vorherige. Das Erarbeiten war quasi immer zäh und herausfordernd. Das hat sich erst in den ersten Jahren als Lehrerin gelegt – durch meine Erfahrungen.
Nicht jeder Schüler oder jede Schülerin wird vielleicht ihr Leben lang Klavierspielen wollen. Doch wird sollten so unterrichten, dass ihnen dieses möglich ist. Der Klavierunterricht ist für mich eine langjährige Ausbildung, die zu einem lebenslangen Musizieren befähigen sollte.
Besseres Notenlesen, mehr Selbständigkeit, mehr Interpretationssicherheit und mehr Musikerlebnisse.
Das sind gute Argumente, um mit der Idee der 40 Piece Challenge zu experimentieren.
Der Anfang wäre, dass wir mehr leichtere Stücke, sogenannte „Quick Wins“ unterrichten. Weiter oben habe ich davon berichtet, dass dies bei zwei meiner Schülerinnen sehr gut angekommen ist.
Außerdem können wir die gelernten Stücke in Form einer Liste festhalten und dagegen steuern, wenn es zu wenige sind. Was genau „zu wenig“ bedeutet, kann jede*r für sich definieren. Auch, mit welchen Schüler*innen beziehungsweise ab welchem Entwicklungsstand man diese Liste führen möchte.
Ich denke beide Maßnahmen sind mit geringem Aufwand machbar.
Das ist ein Projekt, das viel in Gang bringen kann.

Und es wird Zeit brauchen. Elissa Milne hatte die Idee 2001 und nach vielen Jahren Erfahrung und ihren Berichten davon scheint es erst 2013 zum weltweiten Durchbruch gekommen zu sein.
Ich werde mich auf den Weg machen. Noch habe ich keine Idee welche Zahl ich verfolgen möchte. Mich fasziniert vor allem die Idee dahinter und das proaktive Vorgehen.
Falls du auch dieses Experiment starten möchtest, melde dich gern bei mir. Wie wäre es, wenn wir eine Arbeitsgruppe zum Austausch an Literaturtipps und Erfahrungen starten? Meine E-Mail-Adresse ist carina(at)klavierpaedagogikentdecken.de.
Seit Beginn meines Unterrichtens hat es mich immer wieder gestört, dass es in Deutschland kein System für Schwierigkeitsstufen gibt. Was macht ein Stück zu einem Stufe 2 Stück und ab wann ist es Stufe 3? Bei der Auswahl an neuen Unterrichtsstücke hat es mich immer wieder blockiert, da ich ungern zu schwere Stücke unterrichte.
Letztes Jahr habe ich eine eigene Übersicht über die Merkmale der Schwierigkeitsstufen 1-6 erarbeitet. Damit kann ich viel schneller erkennen, ob das Stück für den entsprechenden Schüler oder die Schülerin geeignet ist. Die Übersicht ist Teil meiner Aktionswoche „Deine Regalschätze“. Darin stöberst du in deinen bereits vorhandenen Noten nach neuen, motivierenden Stücken und erfährst, wie du bei der Auswahl Zeit sparen kannst, worauf du achten solltest und eben wie du den Schwierigkeitsgrad bestimmen kannst.
Falls du Interesse hast, klicke einfach auf das Bild und erfahre mehr.
Zurück zur 40 Piece Challenge. Hast du schon einmal von ihr gehört oder hast sie sogar bereits ausprobiert? Schreib es doch gern in die Kommentare.